Kinder sehen in uns ihre Zukunft | Interview mit André Stern

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Mit Ihrem Buch „und ich war nie in der Schule“ haben Sie nicht nur einen Bestseller geschrieben, Sie befruchten die europaweite Diskussion über die Schule /  das gängige Bildungssystem für Kinder. Danke dafür…!

Wie kann man den schönen Ansatz des freien Lernens in den Alltag mit Regelschule integrieren, wenn ich zuhause als Ausgleich mit weniger starren Regeln auskommen möchte?

Diese Frage zu beantworten ist nicht mein Job, mein Job ist, dass Sie sich diese Frage stellen.

Ich glaube nicht, dass es möglich ist, auf diese Frage EINE Antwort zu finden. Es geht auch weniger um das „freie Lernen“, als um das FREIE KIND, denn das freie Lernen ist ein Teil vom freien Kind.

Es geht mir sehr um eine neue Haltung: Die Haltung, die „ÖKOLOGIE DER KINDHEIT“ heißt, betrifft ja nicht nur das Lernen. Es ist viel mehr.

Dem Kind zu begegnen und dem Kind zu vertrauen.

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André Stern am Kongress „ÖKOLOGIE DER KINDHEIT“

André Stern im Interview

Das Kind kann schon so vieles. Wenn wir sehen, wie autonom eine Schwangerschaft und eine Geburt stattfinden, und wie das Wachstum des Kindes stattfindet. Es ist wie das Wachsen eines Baumes. Wir haben durch Erwin Thoma am Kongress so viel darüber erfahren, man tut gar nichts, damit ein Baum wächst. Kinder sind da genau gleich.

Zum Lernen haben wir eine Art Trauma. Wir haben das Gefühl, wir müssen es „erzeugen“, „erzwingen“, „erreichen“ …. dabei ist lernen nicht etwas, das man „TUT“, sondern das einem passiert. Es passiert, in dem man spielt und berührt ist, denn es gibt kein Lernen ohne Emotion.

Man kann keine Information speichern, wenn sie nicht mit einem starken Gefühl verbunden ist. Bei 80% von dem, was man hat lernen müssen und dann auch wieder vergessen hat, war kein Gefühl dabei. Die 20%, die man nicht vergessen hat, sind immer die, die mit starken Emotionen verbunden waren.

Man kann nicht sagen, das „freie Lernen“ ist eine gute Methode und die Schule eine schlechte Methode, auch nicht, das eine oder das andere gehöre abgeschafft.  Konzepte kommen von Erwachsenen und dabei werden die Kinder nicht beachtet. Es geht nicht darum, eine Methode anzupreisen. Es geht darum, am GANZEN zu arbeiten. Dann stellen sich ganz viele Fragen nicht mehr.

Wie man das im täglichen Umgang mit dem eigenen und dem verletzten Kind in sich selbst löst? Ja, neuerdings gibt es viele Menschen, die ihre Kinder wieder lange stillen und tragen, das ist diese neue Haltung, die betrifft eben auch das Lernen und sie verändert die gesamte Beziehung zum Kind.

Ich kann mir nicht vorstellen, einen Ratgeber zu schreiben „wie Sie dieses oder jenes machen“, mir geht es darum, dass die ganze Haltung sich verändert.

Welches Gewicht diese neue Haltung dann einnimmt, ist ja individuell. Es ist deshalb so spannend, weil es nicht zwei Kinder gibt, die gleich sind, es gibt auch keine Eltern, die gleich sind. Es ist unmöglich, dass es die eine Lösung gibt.

Es ist unmöglich, das Prinzip von „nicht Schule“ in der Schule umzusetzen, das geht nicht. Es geht auch nicht darum, dass man in der Schule neue Methoden verwendet. Es geht darum, dass man in der Schule mit einer neuen Haltung lebt. Das geht ohne etwas zu verändern – außer der eigenen Haltung.

Wie wurde Ihnen bewusst, wie „anders“ Ihre Welt von klein auf war? Wie war es als Kind? Sie werden oft zitiert: „“Guten Tag, ich heiße André, ich bin ein Junge, ich esse keine Bonbons und ich gehe nicht zur Schule!“ Woher kam dieses Selbstvertrauen?

Das kam nicht, das wurde mir nur nicht genommen. Dabei bin ich ja ein ganz normales Kind. Es ist lustig, dass ich als Ausnahme gelte, obwohl das was ich erlebt habe, das Natürlichste ist, das man überhaupt erleben kann. Es ist das, was jedes Kind erleben würde, das man in Ruhe lassen würde und dem man vertrauen würde.

Es geht nicht darum, dass man neue Zustände erreicht. Es ist wie bei der Meditation, Sie arbeiten daran, einen Zustand zu erreichen, der schon da ist. Es geht darum, diese vielen Wolken, die das überdecken, auf die Seite zu schieben, damit man diesen Zustand erreicht.

„Selbstvertrauen“ mag ich nicht als Begriff, weil man darin eine gewisse Eitelkeit bemerkt. Ich sage es so:

Das Kind hat immer das Gefühl, dass es die richtige Person am richtigen Ort zur richtigen Zeit ist.

Dieses Gefühl ist ein Grundgefühl, eine Grundüberzeugung vom Kind, es muss Selbstvertrauen nicht entwickeln.

Mein Leben ist nicht so anders. Ich bin überhaupt nicht so anders, als man denkt. Ich bin Mitglied dieser Gesellschaft, ich bin mitten in dieser Gesellschaft. Ich habe immer mit dieser Verschiedenartigkeit der Gesellschaft gelebt. Da musste ich nicht eines Tages weg von der vorbereiteten Umgebung, um mich ziemlich verloren zu fühlen in der „realen Welt“, weil ich die reale Welt nie verlassen habe.

Mir ist einfach einiges bewusst geworden, durch die vielen Fragen. Hätte man mir die vielen Fragen nicht gestellt, hätte ich ja nicht darüber nachdenken und sie beantworten müssen mit „Guten Tag, ich heiße André, ich bin ein Junge……..“

Ich hatte eine organisch fließende Kindheit, ohne dass das die Umsetzung von Konzepten gewesen wäre.

Man kann nicht sagen, nach so und so vielen Jahren hat es dieses und jenes gebracht. Es war keine Theorie, keine Methode, kein Versuch.

Richtig verstanden habe ich vieles erst später durch die Begegnung mit Gerald Hüter. Nach unseren Gesprächen habe ich dann auch vieles erklären können. Die Begegnung mit vielen Wissenschaftlern, aus unterschiedlichen Bereichen, wie Bindungstheorie, usw. brachte Erkenntnissen. All das kommt zusammen und irgendwann sitzt man dann auf einer Art „konischem Berg“ und hat so einen Panoramablick, wo all das zusammenfließt. Die Bäume, die Tiere, die Biologie, die Neurobiologie, da kommen alle Bereiche für sich zusammen.

In dieser neuen Bewegung (und Haltung), seit fünf Jahren ungefähr, kommt immer mehr zusammen. Ich war wie ein Gefäß und sammle diese Informationen. Daraus ergibt sich ein immer verständlicher werdender Überblick dessen, wie wir sind und wie wir funktionieren.

Da geht es überhaupt nicht mehr um meine Person, sondern allgemein um das Kind.  Je mehr man nachdenkt, umso mehr sieht man. Ich sehe das verletzte Kind in jedem Menschen und mir blutet das Herz, weil ich sehe, wie leicht es gewesen wäre, oder wie leicht es wäre, dass es der nächsten Generation nicht so geht. Je mehr man das sieht, umso mehr bemerkt man, dass alles eine Sache der Haltung ist.

Die nächste Stufe war die Begegnung mit Erwin Wagenhofer, sowie die unglaublichen Gespräche mit ihm. Er ist ein Mann der noch mehr Überblick hat und langsam fließt alles zusammen.

Dann kommt die letzte Stufe, die ich unbedingt erwähnen möchte: Das sind die eigenen Kinder! Antonin, mein Erstgeborener und Benjamin liefern mit täglich so viel Stoff zum Nachdenken. Wie sie sich begeistern und Dinge verstehen. Und dann kommen die weiteren Kinder dieser Welt…

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Arno Stern, André Stern und Sohn Antonin

Wir staunen über Dinge, die so normal sind, das ist das Problem. Eigentlich müsste uns nicht erstaunen, was Kinder machen.

Ab einem Alter von 6 Jahren ist bei Kindern der Tag üblicherweise sehr durchgetaktet und fremdbestimmt. Wie sah Ihr Alltag als Kind – ohne Schule – aus? Was war toll? Was hat Ihnen gefehlt?

Das Kind ist verbunden mit Bäumen, mit Tieren, mit Lebewesen, es fühlt sich als richtige Person am richtigen Ort. Es hat keinen Grund sich mit anderen Kindern zu identifizieren, schon gar nicht mit Schulkindern. Das Kind hat auch keinen Grund zu denken, es gibt nur zwei Genders. Es hat keinen Grund in Kategorien zu denken. Das Kind denkt, es gibt soviele „Genders“, wie es Menschen gibt.

Eine Geschichte dazu:

Ein junger Bub sitzt in mitten von einer Gruppe Ballett-Tänzerinnen. Angehende, etwa 13 bis 15jährige Tänzerinnen. Er sitzt da einfach. Da kommt die Lehrerin und schaut den Bub an und sagt: „Schön, dass du dabei bist, aber hast du gesehen, das ist ein Kurs für die Großen?“ Da sagt das Kind: „Ja, ich bin ja groß!“ Die Lehrerin sagt lächelnd: „Das stimmt. Aber hast du gesehen das ist ja ein Kurs für die Mädchen?“ „Ich bin ja ein Mädchen“ sagt der Bub.

So sehen die Kinder die Welt.

Sie vergleichen sich nicht, sie fragen sich nicht, was sie verpassen oder „Was haben die anderen, was ich nicht hab?“.

Man kann einen typischen Tag von einem nicht in die Schule gehenden Kind nicht beschreiben, weil das ja jeden Tag anders ist. Bei mir war es so, als ich mich für Deutsch interessiert habe, habe ich nur noch deutsch gelernt. Bis zu acht Stunden pro Tag. Als mich die Musik begeistert hat, hab ich nur für die Musik gelebt.

Kinder gehen so tief in die Dinge hinein, ich beobachte meinen Sohn Antonin zum Beispiel. Wenn ihn die Dinge beschäftigen, ist er dann vollkommen dabei, stunden-, tagelang mit einer unglaublichen Ausdauer. Er interessiert sich zum Beispiel für Raketen. Er lernt immer mehr und mehr dazu, er ist ein richtiger Raketen-Spezialist. Seine Tage sind eben nicht getaktet und nicht fremdbestimmt, aber sie sind unglaublich strukturiert, voller Rituale und voller Rhythmen.

Kinder lieben Rituale. Dinge, die sie beruhigen, weil sie immer wieder kommen. In der selben Reihenfolge zur selben Zeit … aufgepasst, wenn es nicht genau so ist, dann geraten sie mitunter sehr aus der Fassung. Das sagt uns einiges über die Rhythmen.

Das Interessante ist, meine Kindheit war dadurch bestimmt, dass meine Rhythmen und Rituale nicht gestört worden sind. Da ist ein sehr wichtiger Begriff, den Ken Robinson geprägt hat. Er spricht im Vorwort zu meinem Buch über die Rhythmen und Rituale der Kindheit und bedauert es, dass diese Rituale wenig Resonanz in der Organisation unserer Welt finden.

Das Besondere an meiner Kindheit war, dass diese Rituale und Rhythmen nicht nur ernstgenommen, sondern respektiert worden sind.

Somit kann ich nicht beantworten, was besser war oder was mir gefehlt hat, weil ich das nicht verglichen habe und nicht vergleichen möchte. Ich sehe nicht, was ich hätte vermissen können, denn ich konnte immer genau das tun, was für mich wichtig war. Es gibt ja nichts, das man heute lernen muss, weil man es morgen nicht mehr lernen könnte.

„Das einzige das ich weiß, ist das ich nichts weiß.“ Sokrates

Das einzige das ich weiß ist, dass ich alles lernen kann, was mich interessiert. – das sage ich.

Somit brauche ich nicht alles zu wissen, weil ich ja alles lernen kann und wenn ich es lerne, weil ich es lernen möchte, dann werde ich es auch nie wieder vergessen.

Lernen durch spielen: Kann man es ihnen „leicht“ machen, die Freude am Lernen nicht zu verlieren?

Diese Frage muss jeder für sich beantworten. Das ist schon wieder eine Frage der Haltung, mit der wir uns begegnen. Die Freude am Lernen verlieren wir deshalb, weil wir die Freude am Neuen verlieren. Am Anfang haben wir überhaupt kein Problem mit dem Neuen. Wir freuen uns, wenn was Neues kommt. Was zu lernen, zu entdecken, zu erforschen ist tief in uns drin. Wir sehen das an unseren Kindern.

Aber dann machen wir eine fatale Erfahrung: Es ist die Erfahrung, dass das Neue die Gefahr beinhaltet, dass man abgeprüft wird und man die richtige Antwort nicht kennt. Beziehungsweise die erwartete Antwort nicht kennt, und dass man be- oder verurteilt wird. „Wie viel sind zwei und zwei? Sag schnell, sag schnell, sag schon…..“ in diesem Stress sagt man automatisch „fünf“…. dann bekommen wir gesagt: „Siehst du, da hast du aber noch viel zu lernen….!“ So fühlen wir uns ertappt und verbinden so das Neue mit der Gefahr ertappt zu werden, etwas nicht zu kennen. Das ist der schlimme Moment, wo wir keine Freude mehr haben am Neuen.

Der zweite fatale Moment ist der, wo wir uns mit Dingen beschäftigen müssen, Dinge auswendig lernen, Dinge, die uns nicht interessieren. In der Zeit, wo Themen zu kurz kommen, die uns wirklich interessieren, machen wir die Erfahrung, dass lernen etwas unangenehmes ist, das wir eigentlich am liebsten vermeiden möchten.

Weil wir es „geschafft“ haben, lernen und spielen von einander zu trennen. Das ist so gegen unsere Natur, die so sehr lernen möchte. Wir verwechseln AUSWENDIGlernen mit Lernen. Lernen ist nicht etwas, das man tut, lernen ist etwas, das passiert. Auswendiglernen hingegen ist etwas, das man tut. Durch Auswendiglernen wird Lernen zu einer Arbeit.

Besonders schmerzhaft wird das bei der Musik, Musik ist so was intimes, der Mensch ist so sehr Musik. In der Musik ist es so, sobald die Pflicht ruft, meldet sich die Begeisterung ab. Das ist furchtbar schade. Kinder merken gar nicht, dass sie Musik lernen, sie merken überhaupt nicht, dass sie lernen. Das ist etwas, das sich entwickelt. Auch wir merken nicht, dass wir lernen, wenn uns etwas begeistert.

Das Kind einfach aus der Schule rausnehmen und in derselben Haltung weiterleben bringt nichts.

Wie man das jetzt umsetzen soll in die eigene Realität, da hab ich keine Ahnung. … Ich wäre mir selbst sehr verdächtig, wenn ich darauf eine allgemeingültige Antwort hätte. Irgendeine Ausbildung oder eine Methode anzupreisen, das ginge hier nicht. Das muss jeder für sich und seine Familie entscheiden.

Ich denke es beginnt auch schon viel früher: Als Beispiel, wenn ein Baby mit einem Gegenstand spielt und jemand geht hin und zeigt ihm, wie „man das  richtig macht“.

Das ist der fatale Moment, wo das Kind die eigene Kindheit aufgibt, weil das Kind bemerkt: man würde mich mehr lieben, wenn ich meine Kindheit aufgebe zu Gunsten dessen, was die Erwachsenen unter Kindheit verstehen. Das Kind macht immer das, was bei seinen primären Bezugspersonen am besten ankommt.

Wir ersetzen dem Kind die Kindheit mit einem Konzept dessen, was eine Kindheit sein sollte. Oder das, was wir als Kindheit sehen.

Die „neue Haltung“ mit der wir unseren Kindern begegnen wollen, ist positiv und zukunftsorientiert. Was sind 4 Grundwerte, die das ausmachen?

Vertrauen, Verbundenheit, bedingungslose Liebe und Begeisterung.

Vielleicht ist der Blick auf die neue Haltung eine Einladung „auf diese Seite des Spiegels zu treten“ und Vertrauen in das Kind zu haben. Vielleicht möchte jemand auch eine Minute länger auf dieser Seite verweilen. Jede Minute, die wir auf dieser Seite verbringen, in Verbundenheit, ist ein Segen für die Kindheit.

Wie sieht jetzt die erste Stunde Ihres Tages aus?

Ich habe jeden Tag ein Morgenritual, das dauert zwei Stunden. Das fängt um halb sechs oder sechs Uhr an. Das beinhaltet vor allem Meditation, Musik (Gitarre) und Schreiben. Ich mache es bewusst bevor die Kinder aufstehen, das ist wirklich meine Zeit.

Die Kinder stehen auf, wenn ich fertig geschrieben habe, das fließt schön ineinander. Manchmal steht einer früher auf und kommt auf meinen Schoß. Wenn es Antonin, der Große, ist, dann liest er mit, was ich schreibe. Wenn er sieht, dass ich von ihm etwas schreibe, dann will er es manchmal direkt „korrigieren“ 😉

Welches Buch lesen Sie gerade?

Illusions II von Richard Bach

Wer darf Ihnen sagen, dass Sie mit etwas womöglich falsch liegen?

Jeder!

DANKE an André Stern ♥

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MAMA-COACH Linda, André Stern & ich am Kongress „ÖKOLOGIE DER KINDHEIT“
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Interview Naomi Aldort – Von der Erziehung zur Einfühlung

25 Sätze, die du deinem Kind nicht oft genug sagen kannst

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